"Haarige" Texte
Wildwuchs 2012 "Haarige" Texte
Keck Kiosk Kaserne, Foto © Regine Flury
"WOZ" Die Wochenzeitung
Publizierte Texte November 2022
Erster Schnitt: Marie
Ich kämme seine dunklen Haare über seine Stirn nach vorne, was ihn anders aussehen lässt.
«Und was willst du mit deinen kurzen Haaren machen?» «Ich will sie eigentlich … endlich lang tragen!» Er schaut lange in sein Spiegelbild. «Dann schneide ich nur wenig ab!?»
«Wenn ich mich für den Ausgang bereit mache, würdest du mich nicht mehr erkennen.» Leise und eingeübt lacht er in den Spiegel. Seine dunklen, vollen Augen suchen Annahme. «Dann trage ich eine Langhaarperücke und ein edles Dessous.»
«Hast du so ein Foto von dir?» Ich drücke sein festes Ohr nach vorne, um dahinter alle Haare zu erwischen. «Nein! Ich lösche die Fotos wieder, wegen meiner Familie.»
«Du siehst bestimmt toll aus!» Mit weichen, schnellen Bewegungen streift er seinen Pulli über die kurzen, nach hinten frisierten Haare und über die kleine Wölbung seiner wachsenden Brüste.
«Danke. Fühl mich leichter.»
«Tschau, Marie.»
Jetzt sehe ich Marie, in allen Gesten. Sie zieht die schwere Rolltasche, vollgepackt mit Essen vom «Tischlein deck dich», apart über die drei Stufen beim Altar hinunter.
Zweiter Schnitt: D. mit den wilden Katzen
«Schneidest du mir den Bart weg?», fragt er, legt zehn Franken auf das Tischlein und beugt seinen Kopf nach unten. «So kann ich nicht mehr unter Leute, er muss weg!» Mit einem Griff zieht er eine Whiskyflasche aus seiner Tasche und nimmt einen grossen Schluck. «Und schneid mir ja nicht in die Kehle!»
Achtsam gleite ich mit dem Rasierer über Wangen und Hals. Die Form der Lippen und die Backenknochen werden sichtbarer. «Du bist ja noch jung», sage ich. Er öffnet seine Augen und schaut sich durch den Spiegel an: «Oh nein!», schreit er, «jetzt erkennen mich die Wildkatzen nicht mehr!» Er weint. «Bestimmt erkennen sie dich», sage ich vorsichtig, «sie riechen dich doch.» Meine Worte beruhigen ihn schneller, als ich dachte.
«Jeden Morgen sind sie da, auch die Igel huschen an mir vorbei, husch, husch», fährt er fort und zeigt mit dem Finger in die Luft. «Weisst du, die Katzen sind wild, sie können mir an die Kehle springen.» Ruckartig fasst er an seinen Hals. «Jetzt muss ich mir mein Parfüm wieder neu zusammenmischen! Mein Strassenparfüm», er lacht rau.
Dritter Schnitt: Frau aus Syrien mit Tochter
Mit ihrem kleinen Mädchen und vielen Taschen setzt sie sich hinter dem Altar auf den Stuhl.
«Weisst du, ich weiss, wie es ist, einen Krieg zu erleben!», sagt sie. «Nach langer Reise zu Fuss und mit Bussen kamen wir hier in Basel an, mit Trainerhose und einer Tasche. Es war kalt, ich verstand kein Wort.»
Sie schaut sich kurz im Spiegel an und streicht ihre hell gefärbten Haare zur Seite. «Nie hätte ich mich getraut, einen Haarschnitt zu verlangen», sagt sie. «Die Ukrainerinnen haben ja schon schön geschnittene Haare. Kann ich heute als Erste kommen?»
Eigentlich sei sie im Ramadan, aber jetzt, mit dem Kind im Bauch, könne sie nicht fasten.
«Schneide ein grosses Stück, auch kurze Fransen gerne!» Heute sei nationaler Feiertag in Damaskus, da passe es, Haare zu schneiden. Ihr junges Gesicht strahlt eine mütterliche Schönheit aus – und eine Kraft, als hätte sie allem schon in die Augen geblickt.
«Ich hoffe sehr, dass mein Mann bald aus Deutschland in die Schweiz kommen kann! Schon sieben Jahre warten wir auf seine Papiere, und jetzt kommt das zweite Kind zur Welt.»
Ich sehe die Erschöpfung in ihrem Gesicht. Ihre kleine Tochter schmiegt sich um ihre Beine. Ein paar der langen Strähnen fallen in die rosarote Kapuze vom Pulli des Mädchens.
Vierter Schnitt: Goldene Haare
Sorgfältig kämme ich durch ihr feines goldblondes Haar.
«Ich habe mich oft alleine als blinder Gast eingeschlichen, in irgendwelche Apéros oder Vernissagen … Niemand hat mich je aufgedeckt, ich war eben schön, das hilft», sagt sie und lacht.
«Geredet habe ich mit niemandem, im Geheimnissetragen bin ich eine Heldin. Und wenn mich jemand anlügt, spür ich es immer.»
«Spätabends habe ich mir dann irgendwo einen unsichtbaren Unterschlupf gesucht. Flink, sodass mich niemand entdecken konnte.»
Ich bürste ihre Haare nass über ihre Schultern und stelle mir vor, wie sie darauf ausruht, ein kleiner Schutz … ein kleiner Vorhang, hinter dem man für einen Augenblick Schutz findet.
Ich spüre ihre Anspannung, dass ich vielleicht zu viele Haare abschneide, und rieche ihr feines Parfüm.
Es ist still, nur feine blonde Haarspitzen, die neben uns auf den Boden fallen. «Jetzt endlich», sagt sie, «schaffe ich es, meine Geschichte aufzuschreiben. So wird alles ertragbarer.»
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Nächster Schnitt
Ein kleines Kissen
"Ihre Hände legt sie zitternd auf ihre Oberschenkel ..., ihr Oberkörper neigt sich auf den Boden. Ich stehe dicht hinter ihr und versuche ihren Blick zu erhaschen, der nur kurz über den Spiegel huscht und sich schliesslich neben ihren Füssen ausruht.
«Darf ich dir ein kleines Zöpflein flechten?»
Sie nickt. Ihr filigraner Körper zieht sich zusammen, auch ich beuge mich mit rundem Rücken nach unten, um ihre Haare weiter kämmen zu können. Auf ihrer Haut zeigen sich aschfahle Spuren vom ungeschützten Leben draussen.
«Zwischen Steinen und Igeln, nahe einem Bahngleis, da habe wir gerade unser Zelt aufgestellt.»
«Stört euch niemand?»
«Am Morgen kommen zuerst die Grenzwachen, dann die Bahnwachen, danach die Polizei, aber sie lassen uns da schlafen. Am Morgen, wenn die Sonne aufgeht, dann leuchten die Steine so farbig, so viele leuchtende Steine … Jeder Stein ist anders und die Igel kommen neugierig und so nahe an unser Zelt.»
«Für den Winter eine Wohnung zu finden, das wäre schon besser. Aber es ist so schwierig.»
Sie schliesst die Augen für eine Weile.
«Wir waren gestern bei einer Wohnungsbesichtigung, aber da waren so viele Leute im Treppenhaus. Dann sind wir schnell wieder davongeschlichen. Unser Plätzli ist ja sicher, solange es noch nicht kalt wird.»
Mit dem unteren langen Haar winde ich schnell ihr kleines Zöpflein fertig.
Sie steht auf, als würde sie plötzlich etwas weiterziehen.
Im Gang sehe ich ihre männliche Begleitung mit Hut und einem grossen Rucksack auf dem Rücken warten.
«Ich komme!», ruft sie ihm mit dünner Stimme zu.
«Was machst du eigentlich mit meinen abgeschnittenen Haaren, da auf dem Boden?
Du könntest sie doch brauchen für ein kleines Kissen in einer Puppenstube. Das wäre doch schön! Kannst du so etwas nähen?»
«Ja, das ist eine gute Idee«, lache ich.
Ihr dünnes, gerade sitzendes Zöpflein betont jetzt ihren zierlichen langen Hals.
Sie stopft ihre zwei verbleichten Plastiksäcke unter ihre Arme und verschwindet mit leisen Schritten."
Ein bisschen Glück rundherum
«Schön, dass du zum Haareschneiden kommst! Wie geht’s dir?»
«Würde ich daran denken, wer ich bin, würde es nicht gut um mich stehen.
Darum lebe ich von Tag zu Tag.»
Er setzt sich auf den kleinen Stuhl vor dem Spiegel und legt seinen Hut neben sich.
«Meine Haarantennen sehen ja schrecklich aus, wie eine untergehende Wasserpflanze.» Während er schelmisch lacht, zieht er seine Haare nach oben und blickt sich angriffslustig im Spiegel an.
«Alles muss weg, einmal darüber fräsen, eine Kahlrasur, bitte.
Ich bin da, ich bin dort, der Hut steht mir gut.
Ein bisschen verrückt musst du bleiben, einfach nicht so, dass die Leute Angst vor dir haben.»
Er schaut mir direkt ins Gesicht.
«Deinen Schalk hast du nicht verloren», lache ich.
«Den habe ich nur, damit ich nicht weine.» Seine schönen Augen verdunkeln sich.
Wir schauen uns im Spiegel an, während ich den Rasierer behutsam über seinen warmen Kopf gleiten lasse. Die weisse Kopfhaut wird sichtbar – und eine lange Narbe, die eine tiefe Spur auf seiner rechten Kopfhälfte zeichnet.
Er drückt seinen sehnigen Körper fest an die Stuhllehne, an der sein schwerer, langer Wintermantel hängt.
Ich setze erneut im Nacken an und ziehe die nächste Bahn durch seine Haare. Die Maschine ist laut. Doch er singt weiter: «Ich bin gezogen durch die Welt mit meiner Gitarre, habe meine Musik verschenkt, mein Geld verloren …»
«Weisst du, das Glück ist oben, unten, rundherum. Ich darf nicht denken, wer ich bin, sonst kommt das Unglück zurück.»
Energievoll pinsle ich alle kleinen Haarstoppeln von seinem kahlen Kopf auf den Boden.
Ein kleiner Haarberg türmt sich auf meinen Schuhen.
«Tipptopp, so kann ich mich wieder zeigen!»
Wir verabschieden uns mit einer kleinen Verbeugung mit Hut.
«Salut!»
Tierflüsterin
«Da, sitz!» Ihr grosser, schmaler Hund legt sich rasch auf die ausgebreitete Hundedecke neben den Altar.
«Wie heisst dein Hund?»
«Eine Hündin ist sie, ihr Name ist geheim, ich habe sie gerettet, ich bin Tierflüsterin.
Hast du Tiere?
Ich kann dir alles über sie sagen!» «Kannst du mir die Haare spielend ums Gesicht schneiden?»
Sie öffnet ihre Haarspange, ihre langen braunen Haare legen sich rasch über ihre Schultern.
«Diese Haarspange trage ich schon 30 Jahre mit mir, sie ist das einzige Geschenk von meinem Vater.»
Mit schnellen Handgriffen befestigt sie die kleine Haarspange an ihrem BH.
«Da vorne, auf der Höhe meiner Augen brauche ich Haare, sie müssen mein rechtes Auge noch überdecken, es beschützen können!»
«Niemand soll meinen Blick deuten, meine Gefühle gehören nur mir!»
«Ich habe heute kein Geld dabei.»
Die Hündin rückt unter ihren Stuhl.
«Kann ich mit einer Honigmelone bezahlen? Oder ich berate dich bei den Tieren?»
Gewahr Werden
Im mobilen Coiffeursalon von Anna Tschannen begegnen obdachlose Menschen ihren eigenen Geschichten – geprägt vom Leben auf der Strasse. Für die Notwendigen KurzGeschichten liest Anna aus ihrem Tagebuch. Darin verwebt sie die Erzählungen der obdachlosen Menschen mit eigenen Gedanken. (Untertitel können direkt im Video aktiviert werden)
Alle Texte © Anna Tschannen Basel